Sonntag, 21. November 2010

Promovieren beim Stalinpreisträger

Als ich Professor Riehl wegen eines Doktorthemas in seinem Arbeitszimmer beim Physikinstitut Maier-Leibnitz aufsuchte, sass er hinter seinem Schreibtisch und paffte eine dicke Zigarre. So habe ich ihn später noch oftmals gesehen und ganz selten ohne Zigarre. Er überraschte mich, indem er gleich nach der freundlichen Begrüssung fragte: " Was wissen Sie über Festkörperphysik?" Meine Antwort: "Nicht besonders viel, Herr Professor". Darauf Riehl: "Dann sind Sie für mich der richtige Mann. Sie werden eine Arbeit über strahleninduzierte Schäden an Festkörpern machen". Das Thema war damals heiss, denn wenige Monate vorher, im Oktober 1957, war im britischen Forschungszentrum Windscale einer der beiden Reaktoren durchgegangen, weil die strahleninduzierten Schäden an Grafit (sog. Wigner-Effekt) nicht richtig ausgeheizt worden waren. Es kam zu Brennelementschäden, Jodaustritt und Milchverseuchung im umgebenden Gelände, was zu weltweiter negativer Berichterstattung führte.

Professor Dr. Nikolaus Riehl (1901 - 1990) bei seinem Domizil in München (um 1987)

Ich sollte jedoch nicht Grafit studieren (Riehl: "Das machen jetzt die Engländer schon zur Genüge"), sondern stattdessen Kupfer, ein Metall mit wohldefinierten Eigenschaften. Ausserdem sollte ich nicht Neutronen, sondern Alphateilchen und Rückstossatome zur Bestrahlung verwenden. Riehl warnte mich ehrlicherweise noch vor der bescheidenen apparativen Ausstattung seines Bereichs: "Das Festkörperlabor ist erst im Aufbau; Sie müssen sich das notwendige Instrumentarium selbst beschaffen oder zusammenbauen". Diese offene Auskunft erschreckte mich nur mässig, denn längst hatte ich eine Idee, wie ich meine Doktorarbeit schnell durchziehen konnte. Das verriet ich "Papa Riehl" aber nicht.

Da mir das Gebiet der Veränderung der Materie durch Bestrahlung total fremd war, musste ich mich zuerst einlesen. Die Fachliteratiur war durchgängig anglo-amerikanisch, da bis vor wenigen Jahren den Deutschen die Hantierung mit Strahlenquellen noch verboten war. So las ich denn eifrig die Zeitschrift "Physical Review" zum Thema "radiation damage". Die Autorennamen Seitz, Dienes, Mullins etc. sind mir daraus auch heute noch in Erinnerung.

Die Idee

Als ich genügend Literaturkenntnisse angehäuft hatte, machte ich mir einen Plan, wie ich bei meiner Arbeit vorgehen wollte. Vereinfacht gesagt ging es darum, einen Kupferblock verschiedenen Bestrahlungen zu unterziehen und danach seine Oberfläche und sein Inneres auf Veränderungen zu durchmustern. Hierzu benötigte ich eine grosse Anzahl von Gerätschaften und Instrumenten bis hin zum Elektronenmikroskop. Nichts davon war im Riehl´schen Institut vorhanden. Und hier setzte meine Idee ein, die ich oben schon angedeutet habe, ohne sie jedoch genauer zu erläutern. Sie lautete ganz schlicht: "alles existiert schon, man muss es nur finden". Übertragen auf meine damalige Situation bedeutete dies: "Nichts beschaffen, keine Versuchsapparaturen selbst aufbauen, sondern bei anderen Labors und Instituten, welche diese Geräte bereits besitzen, als Gast experimentieren."

Und Institute und Laboratorien gab es damals an der Universität und der Technischen Hochschule München zuhauf. Die Physikinstitute bei Gerlach und Joos kannte ich aus eigener Anschauung; daneben waren aber auch die Abteilungen der Physikochemie , des Maschinenbaus und der Mineralogie apparativ gut ausgestattet. Und überall gab es auskunftsfreudige (meist ältere) Konservatoren, die jedes Gerät und seinen Standort in der Landeshauptstadt kannten und bereit waren, mir Empfehlungen an ihre dortigen Kollegen mitzugeben.

So ergab es sich, dass ich mit meinen Kupferklötzen fast ständig auf Wanderschaft war und in München von einem Institut zum anderen pendelte. Bei den Metallkundlern benutzte ich deren ausgezeichnete Lichtmikroskope , bei den Mineralogen borgte ich mir die Kristalloflexgeräte für Debye-Scherrer-Aufnahmen aus und am 2. Institut der Uni bei Professor Rollwagen war ich Gastforscher am dortigen Elektronenmikroskop für Oberflächenabbildungen und zur Elektronenbeugung. Alle Geräte waren in der Regel bestens justiert und überall gab es hilfreiche Assistenten, wenn ich den Namen Maier-Leibnitz als "Türöffner" fallen liess. (Später, als Brüterprojektleiter in Karlsruhe, habe ich auch die entgegengesetzte Arbeitsweise erfahren und mich oft darüber geärgert: da gab es Forscher in bestens ausgestatteten Labors, die von ihrem Gerätefetischismus nicht abzubringen waren und jede neue Aufgabe erst mit einer 6 bis 12-monatigen Beschaffungsorgie beginnen mussten.)

Der Effekt

Eine Doktorarbeit anzufangen ist viel leichter, als sie zu beenden. Im Grunde gibt es dafür drei Möglichkeiten. Der Doktorand kann seinen Doktorvater mit einer riesigen Versuchsapparatur beeindrucken, die vom Aufwand her schon doktorwürdig ist und an der andere später weiter experimentieren können. Oder er produziert eine grosse Datenmenge, die zwar niemanden sonderlich interessiert, welche aber vielleicht Eingang in die Gmelinsche Datensammlung findet. Oder - und das ist der Glücksfall - man findet einen "Effekt". Das muss nicht immer gleich etwas Nobelpreisverdächtiges wie im Falle von Mössbauer sein. Es genügt, dass man ein überraschendes Ergebnis findet, das sich visuell gut darstellen lässt und - das ist wichtig - welches die Physikerkollegen als Effekt akzeptieren.

Ich hatte das Glück bei meiner Doktorarbeit einen solchen Effekt zu finden. Bei den Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop stellte ich nämlich fest, dass die ursprünglich raue geätzte Kupferoberfläche sich durch die Bestrahlung mit Alphastrahlen zunehmend glättete. Der Effekt war so überraschend eindeutig und optisch so gut darstellbar, dass Professor Riehl mich aufforderte, nach ein paar Kontrollversuchen an Bor mit den Experimenten aufzuhören und die theoretische Erklärung für dieses Phänomen zu suchen. Ich bot hierfür die Diffusion an, welche nach meiner rechnerischen Abschätzung den Massentransport bewirken konnte. Offensichtlich waren die Gitteratome des Kupfers durch die Bestrahlung beweglich geworden und hatten sich auf andere Potentialplätze begeben. Die bestrahlungsinduzierte Produktion von Leerstellen erhöhte nach meinen Rechnungen die Diffusionskonstante um mehrere Zehnerpotenzen und war wohl für die Einebnung der Kupferoberfläche verantwortlich.

Kupferoberfläche im Elektronenmikroskop; unbestrahlt (links) und bestrahlt (rechts)

Mitte 1959, nach eineinhalb Jahren, war ich in der Lage die Experimente und Theorien abzuschliessen und meine Doktorarbeit zusammen zu schreiben. Das war kein grosser Aufwand, denn 39 Schreibmaschinenseiten waren schnell getippt. Weitere zwei Monate bereitete ich mich auf das Rigorosum vor, bei dem mich Riehl, Maier-Leibnitz und der Theoretiker Hettner ausfragen wollten. Riehl war, wie beim Doktorvater zu erwarten, milde in seinen Fragen; ML liess sich die verschiedenen, damals bekannten Beschleunigertypen erklären und Hettner erkundigte sich über meine Kenntnisse in Thermodynamik. Im Grunde war die Doktorprüfung eine Reprise des Hauptdiploms. Die gelehrten Herren gaben mir, etwas grosszügig wie mir schien, eine Note die zwei Stufen über "rite" lag und damit hatte ich in zwei Jahren den Dr. rer. nat. geschafft - vom Beginn des Studiums an gerechnet in 14 Semestern.

Mein Doktorthema fand in der Folge noch einige Fortsetzungen. Besonders gefreut habe ich mich über die Habilitationsschrift meines Betreuungsassistenten Dr. Rudolf Sizmann. (Bestrahlungssimulierte Diffusion an Metalloberflächen, 1962) und über die Doktorarbeit meines späteren Freundes Ulrich Däunert, der 1964 mit dem Thema Bestrahlungsstimulierte Einebnung von Kupferoberflächen promovierte.

Meine Arbeit durfte ich, wie es damals üblich war, bei der Physikertagung vortragen. Sie fand in Erlangen statt und der Aufwand dafür (früh hin, abends zurück, 2. Klasse Bahn) war überschaubar. Meine verschiedenen Gastgeber an der genannten Münchener Instituten berechneten mir keine Gebühren, sodass als Kosten im wesentlichen nur einige Merk-reine Materialien zu Buche schlugen.

Insgesamt hat meine Doktorarbeit dem Institut Riehl so um die tausend Mark gekostet.

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